Deutschlands bittere Pflege-Bilanz: "Ich habe Schwestern weinen sehen"
Einen Spruch hat Ralf Schütt in Altenheimen immer wieder gehört. Er lautet: "Wir pflegen mit Herz." Schütt, der mehr als 40 Jahre lang in verschiedenen Pflegeberufen gearbeitet hat, mag diesen Satz nicht. "Mit Herz zu pflegen, ist gut gemeint, aber nicht zielführend im Sinne einer professionellen Pflege", sagt er zu FOCUS online.
Schütt ist mittlerweile in Rente. Seinen Job als Alten- und später Krankenpfleger hat er immer gerne gemacht. Gerade der Umgang mit den Patienten und die Tatsache, dass er "ihr Leben besser machen konnte, zumindest meistens", gefielen ihm. Doch wenn der 64-Jährige heute auf seinen Berufsstand schaut, ist er ernüchtert.
Angehöriger und Pflegekraft: Schütt kennt beide Seiten
Inzwischen gibt es in regelmäßigen Abständen Berichte über Pflegeeinrichtungen, die bei ihrer Kernaufgabe - der Pflege ihrer Bewohner und Patienten - nicht hinterher kommen. Wer bei Google die Begriffe "Missstände Pflegeheim" sucht, bekommt unzählige Beiträge und Artikel angezeigt.
Fast immer geht es um Vernachlässigung. Um Bewohner, die lange nicht gewaschen werden, ewig im Rollstuhl sitzen, vereinsamen, zu wenig zu essen und zu trinken bekommen, medizinisch falsch oder zu spät behandelt werden. Schütt macht das traurig.
Er blickt besonders kritisch auf seinen eigenen Berufsstand, weil er auch die andere Seite kennt. Es ist einige Jahre her, da wurde er vom Altenpfleger zum Angehörigen. Schütts Mutter zog ins Altenheim. Demenz, zu Hause ging es nicht mehr. "Man hat plötzlich eine ganz andere Rolle inne, das habe ich schnell gemerkt", sagt er.
Urinpfütze unter dem Rollstuhl
Schütt ist immer noch entsetzt darüber, wie seine Mutter im Heim versorgt wurde, dabei starb sie bereits vor vier Jahren. Der 64-Jährige erzählt von einem Besuch, bei dem sie im Rollstuhl saß. Die alte Dame trug eine Windel, "und die war so voll, dass sich sogar eine Urinpfütze am Boden gebildet hatte", sagt er. Schütt merkte schnell: Angehöriger und Experte zu sein, das ist eine ziemlich explosive Kombination.
Man sieht Dinge, die anderen gar nicht auffallen. Man erkennt Missstände. Mutmaßliche Pflegefehler. "Damit es zu so einer Pfütze kommt, müssen die Pflegekräfte mindestens sechs Stunden nicht nach meiner Mutter geschaut haben", sagt der Rentner.
Schütt beschreibt auch eine Szene, in der eine Pflegekraft drei Patienten mit Demenz gleichzeitig fütterte. Und erzählt, dass seine Mutter viele Male wegen Austrocknung im Krankenhaus behandelt werden musste. Er hat sogar ein Buch über seine Erlebnisse geschrieben.
Angehöriger macht Einrichtungen schwerste Vorwürfe
Die Erfahrungen anderer Angehöriger sind teilweise noch krasser. Peter Schwarz zum Beispiel macht den Einrichtungen, in denen sein an Demenz erkrankter Vater untergebracht war, schwerste Vorwürfe. Schwarz heißt eigentlich anders. Aus Angst vor den Konsequenzen will er in diesem Bericht nur anonym auftauchen.
Schwarz hatte seinen Vater drei Jahre lang zu Hause gepflegt. Irgendwann ging es nicht mehr, sagt er zu FOCUS online. "Irgendwann war die Krankheit so stark ausgeprägt, dass ich keine andere Möglichkeit mehr hatte, als Papa im Altenheim unterzubringen." Schwarz hatte eigentlich gar nicht so große Ansprüche, erzählt er.
Er wünschte sich, dass sein Angehöriger "menschlich" gepflegt, ernährt und betreut werden würde. So wie wahrscheinlich jeder, der noch keine Erfahrungen mit dem Altenpflegesystem gesammelt hat, es von einer deutschen, seriösen Pflegeeinrichtung erwarten würde. Der Wunsch ging, wenn man ihm glaubt, jedoch nicht in Erfüllung.
Missstände in deutschen Heimen waren schon mal ein Thema
Schwarz erzählt von groben Missständen in den Heimen in Süddeutschland, in denen sein Vater lebte. Er berichtet von Vernachlässigung, von blauen Flecken am Körper des alten Herren. Sogar ein Foto von einer Kopfverletzung zeigt er - betont aber, auch "humane Pflege" in einem der Heime erlebt zu haben.
"Mein Vater hat immer weiter abgebaut. Natürlich auch aufgrund seiner Erkrankung. Aber ich hatte dennoch den Eindruck, dass er schlecht gepflegt wurde, dass man sich nicht ausreichend um ihn gekümmert hat." Schwarz sprach die Pflegekräfte, die Pflegedienstleitung, die Heimleitung und die Geschäftsführung auf seine Beobachtungen an, sagt er. "Aber da wurde nur abgeblockt, geleugnet, verharmlost und fadenscheinig erklärt."
Den Münchner Pflegeexperten Claus Fussek begleitet das Thema "Missstände in deutschen Pflegeheimen" schon lange. "Ich bekomme immer wieder Anrufe von Angehörigen, die sagen: Meine Mutter, mein Vater wird nicht gut versorgt, bekommt nichts zu trinken, liegt in seinen oder ihren Fäkalien", sagt er zu FOCUS online. Schwarz scheint, wenn man Fussek glaubt, eine Ausnahme zu sein. "Viele Angehörige dokumentieren diese Missstände mit ihrem Handy. Leider beschweren sie sich aber nicht, aus Angst vor Repressalien."
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Die Missstände in Pflegeheimen und die hohen Kosten führen dazu, dass viele ihre Angehörigen lieber zu Hause zu pflegen. Um sie dabei zu unterstützen, bietet das Pflege ABC einen kostenlosen Online-Kurs mit Tipps und Tricks rund um das Thema Körperpflege und Hygiene.
Warum Sie sich unbedingt für diesen Kurs entscheiden sollten:
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Wer ist Schuld an den Missständen in der Pflege?
Wer sich mit den Hintergründen für die vielfach schlechten Pflegebedingungen auseinandersetzt, stößt auf einen Berg an Argumenten. "Der Nachwuchsmangel ist die eine Sache", sagt Schütt.
Seit Jahren kämpfen Krankenhäuser und Altenheime um Personal, immer wieder ist von Pflegenotstand die Rede. Zahlen des Statistischen Bundesamts aus dem Januar 2024 legen nahe, dass in Deutschland bis 2049 voraussichtlich zwischen 280.000 und 690.000 Pflegekräfte fehlen werden. "Die andere: Unsere Standards sind gesunken. Und die Kräfte, die nachrücken, sind teilweise gar nicht geeignet für den Pflegeberuf."
Schütt musste noch ein einjähriges Vorpraktikum machen, ehe er die Ausbildung zum Altenpfleger antreten konnte, erzählt er. Heute sei das anders. "Da wird kaum mehr geschaut, ob jemand wirklich für diesen Beruf, der neben medizinischen Kenntnissen auch Einfühlungsvermögen und Menschlichkeit verlangt, geeignet ist." Der Rentner findet das gefährlich.
Rita Gabler, die ein Hospiz in Erding leitet und seit 43 Jahren in der Pflege arbeitet, hat einen ähnlichen Blick auf die Situation. Sie musste noch mehr als 30 Bewerbungen verschicken, um an einer Pflegeschule angenommen zu werden, erzählt sie im Gespräch mit FOCUS online. "Heute bekommen die Schulen ihre Kurse kaum mehr voll."
Kriterien, die Bewerber eigentlich disqualifizieren würden - zum Beispiel psychische Labilität oder zu schlechte schulische Leistungen - "werden großzügiger übersehen", sagt Gabler. "Die Folge: Diese Absolventen gelangen frisch examiniert auf die Stationen, um bald darauf festzustellen, dass sie mit dem Druck und der Verantwortung völlig überfordert sind oder Zusammenhänge nicht verstehen."
Dünne Personaldecke als Problem
Natürlich gibt es auch andere, die in den Beruf passen und die gerne gute Arbeit leisten würden. Doch sie kämpfen mit widrigen Arbeitsbedingungen. Zeitdruck, Personalknappheit, psychische und körperliche Belastungen gehören zum Alltag.
"Oft werden Dienstpläne schon im Vorhinein mit Überstunden versehen, was in meinen Augen eine Farce ist", erzählt Schütt. Er saß früher im Betriebsrat einer Klinik und habe so etwas "nie durchgehen lassen". Schütt sagt auch, dass in zahlreichen Einrichtungen - vor allem Altenheimen - Azubis oder ungelernte Kräfte Aufgaben übernehmen, für die sie nicht qualifiziert sind, weil es an Fachkräften mangelt. Unter solchen Umständen sind Fehler programmiert.
Schade findet er, dass von den Pflegenden häufig kein Protest kommt. Jedenfalls seiner Erfahrung nach. "Kaum eine Pflegekraft wehrt sich dagegen. Überlastungsanzeigen schreibt heutzutage fast niemand mehr." Dabei ist klar, dass die schlechten Arbeitsbedingungen an den Mitarbeitern nicht spurlos vorbeigehen.
"Ich habe immer wieder Schwestern weinen sehen"
"Es gibt viele Pflegekräfte mit schlechtem Gewissen. Ich habe auch schon Schwestern weinen sehen, weil sie nicht wussten, was sie noch tun sollen", sagt Schütt. Andere Pflegekräfte, mit denen FOCUS online sprach, bestätigen seine Aussagen.
Oft bleibe kaum Zeit, überhaupt Mittagspause zu machen, sagen sie. Einige erzählen vom teils nervenaufreibenden Umgang mit Angehörigen. Mutter oder Vater landen im Heim, weil sie mit der Pflege überfordert sind. Gleichzeitig wird ein Rundum-Sorglos-Paket in der Einrichtung verlangt.
Auch Schütt musste schon solche Gespräche führen. "Ich habe den Angehörigen dann eine Tabelle gezeigt, in der stand, welche Art der Unterstützung der oder die Betroffene braucht. Um ihnen klarzumachen, dass eben nicht jeder Bewohner rund um die Uhr von einer Pflegekraft umsorgt werden muss - und kann."
Hospizleiterin Gabler sieht noch ein anderes Problem: Die "generalistische Pflegeausbildung", die im Januar 2020 eingeführt wurde und laut Bundesfamilienministerium dazu befähigt, "Menschen aller Altersstufen in allen Versorgungsbereichen zu pflegen".
"Viele Pflegekräfte verflachen emotional"
"Zwar wurde eine breitere Fachkompetenz geschaffen, jedoch ist dabei das tiefer gehende Verständnis für medizinische Zusammenhänge verloren gegangen", sagt sie. "Viele Pflegekräfte steigen deshalb nach wenigen Jahren frustriert wieder aus, wechseln den Beruf oder, was am schlimmsten ist, sie verflachen emotional und erledigen nur noch ihren Job."
Gabler glaubt, die Missstände, die viele Angehörige beklagen, sind auch darauf zurückzuführen. Der kalte, teilweise harte Umgang mit Patienten und Bewohnern - in ihren Augen auch eine Folge emotionaler Abstumpfung. Dazu kommt ein System, das auf Profit ausgerichtet ist. Vor allem am Lebensende.
Was also tun, um die Situation der Pflegekräfte und damit auch die der Menschen, die gepflegt werden, zu verbessern? Eine Studie, die das Bundesgesundheitsministerium 2023 durchführte, zeigt: Für fast alle Pflegenden war eine angemessene Bezahlung ein zentraler Punkt, die einen attraktiven Arbeitsplatz ausmachen.
Das ist jedoch einfacher gesagt, als getan. Pflegeexperte Fussek meint: "Wir müssen uns alle ehrlich machen: Eine Steigerung der Löhne würde natürlich auch die Heimkosten erhöhen." Beinahe 90 Prozent der in der Studie Befragten wünschten sich außerdem "eine am tatsächlichen Pflegebedarf ausgerichtete Personalzusammensetzung".
Eine Woche - ein Thema: Pflege in Deutschland
Fachkräftemangel, steigende Kosten und Ringen um würdevolle Versorgung: In einem Schwerpunkt beschäftigten wir uns mit den Herausforderungen der Pflege. Eine Woche lang zeigen wir persönliche Schicksale, strukturelle Probleme und Lösungen.
Haben Sie persönliche Erfahrungen beim Thema Pflege gemacht, die Sie mit uns teilen möchten? Welche Probleme sind Ihnen begegnet? Was lief besonders gut? Schreiben Sie uns eine Mail an mein-bericht@focus.de.
Missstände in der Pflege: Drei Betroffene, drei Lösungen
Davon sind viele Einrichtungen heute noch weit entfernt. Politisch und gesellschaftlich muss sich einiges tun, um die aktuellen Zustände zu verbessern. Der renommierte Pflegeforscher Heinz Rothgang vom Socium der Universität Bremen sagt zu FOCUS online, für eine "qualifikations- und kompetenzgerechte Pflege" müssten vor allem zusätzliche Assistenzkräfte eingestellt werden.
Er bezieht sich in seiner Argumentation vor allem auf die Langzeitpflege. "Gleichzeitig muss die Arbeitsorganisation so umgestellt werden, dass Fach-, Assistenz- und Hilfskräfte entsprechend ihrem Wissen und Können so zusammenarbeiten, dass eine fachgerechte Pflege möglich ist." Rothgang plädiert außerdem dafür, verstärkt digitale Hilfsmittel zu nutzen.
Und schlägt "Ausbildungskooperationen mit Ländern mit junger Bevölkerung" vor, um den Pflegenotstand zu bekämpfen. Konzentriere man sich weiter um das Anwerben bereits ausgebildeter Fachkräfte, "werden wir feststellen, dass wir in Konkurrenz mit anderen Ländern stehen und nicht in der besten Position sind".
"Eigentlich ist es ein Job, der einem so viel gibt"
Hospizchefin Rita Gabler hat praktischere Vorschläge. Sie findet unter anderem, ambulante Versorgungsstrukturen müssten ausgebaut werden. "Ein erster wichtiger Schritt könnte die Abschaffung der Pflegeberatungsstellen und die Wiedereinführung der ‚Gemeindeschwester‘ sein." Ein solches Angebot kennen einige wahrscheinlich noch aus der DDR.
Damals trugen die sogenannten Gemeindeschwestern in ländlichen Regionen dazu bei, die Patientenversorgung sicherzustellen. Sie arbeiteten weitgehend selbstständig, waren aber auch an staatliche Praxen angebunden. Ein derartiges Konzept, so glaubt Gabler, würde nicht nur Hausarztpraxen entlasten, sondern auch zu einer eigenständigen Entwicklung der Pflege beitragen.
Rentner Ralf Schütt wünscht sich eine bessere Ausbildung, mit ausreichend Vorlauf, um zu sehen, ob sich jemand überhaupt für den Pflegeberuf eignet. Am Ende des Tages findet er schade, was aus seinem einstigen Traumjob geworden ist. "Eigentlich ist es ein Beruf, der einem so viel gibt", sagt er. "Aber unter den jetzigen Bedingungen ist das nur noch schwer zu erkennen."
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