Schluss mit Handtuch-Mentalität: Im Urlaub erfuhr ich, was Deutschland fehlt
Ich bin eine von denen gewesen. Ja, wirklich. Die Sorte Mensch, die sich morgens um acht mit Flipflops und halb verschlafenen Augen zum Pool schleppt – nicht, um zu schwimmen, sondern um den besten Liegestuhl zu sichern. Handtuch drüber, Besitzanspruch markiert, Pflicht erfüllt. Der Urlaub kann beginnen – "Man spricht Deutsch" eben.
Und dann kam Japan. Drei Wochen waren wir unterwegs – von Tokio über Kyoto nach Kanazawa, weiter nach Takayama, Koyasan und durch viele kleinere Orte, bevor wir am Ende auf Okinawa landeten. Es war keine schnelle Rundreise, sondern ein echtes Eintauchen – in Großstadttrubel, Bergdörfer, Klöster und zuletzt: Meeresrauschen und ein paar Tage die intensive Reise reflektieren.
In Japan nimmt man Rücksicht auf andere. Punkt.
In einem Badehotel auf besagter Insel am Ende unserer Reise stehe ich dann wieder am Pool. Nur diesmal: kein Handtuch weit und breit. Niemand „reserviert“. Niemand beäugt argwöhnisch, wer wann wo liegt. Die Gäste kommen einfach, setzen sich, baden, relaxen – wie Erwachsene, mit einer Selbstverständlichkeit, die mich fast beschämt hat.
Ich stand da, völlig aus dem Konzept gebracht und irgendwie tief berührt. Kein Konkurrenzkampf, keine Liegenstrategie, keine Reviermarkierung – einfach… Vertrauen. Und vor allem: Rücksicht.
Über die Kolumnistin
Susanne Nickel ist Rechtsanwältin, Wirtschaftsmediatorin und Expertin für Arbeit und Wandel. Ihre Erfahrung sammelte sie in ihrer langjährigen Tätigkeit als Managerin und Beraterin sowohl in nationalen als auch internationalen Unternehmen und Konzernen. Sie ist in fast allen DAX 30-Unternehmen viele Jahre ein- und ausgegangen. In ihrer Kolumne schreibt Susanne Nickel über gesellschaftliche Veränderungsprozesse und den Wandel in der Arbeitswelt.
Japan hat mich auf ganz leise Weise erschüttert. In Tokio erlebte ich zum ersten Mal eine U-Bahn, in der absolute Stille herrschte. Keine Handys, keine Podcasts auf Lautsprecher. Und ja – auch dort gibt es Stoßzeiten, und die Bahnen sind dann brechend voll.
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Aber selbst im Gedränge bleibt eine Art Rücksicht spürbar: kein Ellbogen, kein Vorbeidrängeln, kein „Ich muss da jetzt durch“. Die Menschen stellen sich in exakten Reihen auf, steigen geordnet ein – ganz ohne Schilder, Personal oder Absperrgitter. Es passierte einfach. Weil man es so macht. Weil man Rücksicht nimmt. Punkt.
Uns fehlt die Disziplin
Was dabei oft vergessen wird: Diese Rücksicht beruht auf etwas, das in Deutschland zunehmend schwindet – Disziplin. Es braucht Selbstbeherrschung, um sich leise hinten anzustellen, niemandem auf die Füße zu treten, nicht ständig den eigenen Vorteil zu suchen. Diese Art von Disziplin ist leise, unspektakulär – aber gesellschaftlich hochwirksam.
Und sie geht in Japan oft Hand in Hand mit etwas, das bei uns genauso zu bröckeln scheint: Respekt und Anstand. Man begegnet sich höflich – nicht, weil es erwartet wird, sondern weil es selbstverständlich ist. Der Ton ist leise, die Gesten sind bedacht, der Umgang ist achtsam. Rücksicht ist keine Stilfrage, sondern ein Ausdruck von Haltung.
Bei uns hingegen scheint nicht nur die Disziplin als eine fragwürdige Tugend aus alten Zeiten aus dem Blick zu geraten, sondern auch die Bereitschaft, anderen mit Respekt zu begegnen – im Straßenverkehr, in der Warteschlange, in der Diskussion. Was zählt, ist oft nur noch: Ich. Mein Platz. Mein Recht. Mein Anspruch.
Rücksicht statt Revierdenken
Ein japanischer Reiseführer erzählte mir: Wer besonders früh ins Büro kommt, parkt absichtlich weiter weg vom Eingang – damit die später ankommenden Kolleginnen und Kollegen näher parken können. Zuerst habe ich gelacht und dann geschluckt. In Deutschland würde das kaum jemand freiwillig machen. Hier gilt eher: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, Survival of the Fittest. Man nimmt sich den besten Platz, drängelt sich nach vorne und schreit immer hier. Es geht um den Platz an der Sonne, notfalls auch auf Kosten anderer.
Das Berufsleben als egoistisch geprägte Performance-Arena, denn nur wer „performt“, gewinnt. Der Parkplatz direkt vor dem Büro? Trophäe. Wer pünktlich geht, wird misstrauisch beäugt. Wer sich im Meeting zurücknimmt, gilt als zu leise. Unsere Arbeitskultur kreist ums Ego – mit leicht angespanntem Lächeln, aber klarer Ansage: Nur wer sichtbar ist, zählt. Hauptsache, man zeigt sich schneller, lauter, entschlossener. Wir sind Weltmeister im Einfordern: meiner Rechte, meiner Ansprüche, meiner Freiheit.
In Japan tritt das Ego hinter die Gemeinschaft zurück
Diese Haltung begegnet uns überall: Im Alltag und vor allem im Job. Wir sind leistungsorientiert – zumindest theoretisch. Doch tatsächlich scheint Leistung bei uns immer mehr aus der Mode zu kommen. Was hingegen wächst, ist das Anspruchsdenken: Was steht mir zu? Was muss die Gesellschaft, was muss der Arbeitgeber mir bieten? Immer öfter wird zuerst gefragt, was ich bekomme – nicht, was ich einbringe.
Disziplin und Verantwortungsgefühl weichen dabei einem sehr lauten Ich. In Japan ist es oft umgekehrt: Das Ego tritt zurück hinter die Gemeinschaft. Das kann stützen – aber es kann auch erdrücken.
Denn natürlich hat auch das japanische Modell Schattenseiten. Leistung, Loyalität, Disziplin – das ist die moralische Infrastruktur der japanischen Arbeitswelt. Sie bringt Effizienz hervor, aber auch Erschöpfung. Dabei fordert die kollektive Disziplin ihren Preis. Das Ich ordnet sich oft dem Wir unter. Viele Arbeitnehmer beispielsweise tun sich schwer, ihren Urlaub zu nehmen. Warum? Aus Rücksicht. Sie haben ein schlechtes Gewissen, weil dann die Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeit mit übernehmen müssen. Man verzeiht sich keine Schwäche, keine Abweichung. Wer aus der Reihe tanzt, fällt auf – und nicht unbedingt positiv.
Die Gen Z in Japan sagt: So nicht mehr!
Die junge Generation – die Gen Z – beginnt, das infrage zu stellen. In Japan wie in Deutschland. Sie will leben, nicht nur leisten. Selbstfürsorge statt Selbstausbeutung. "Shinrin-yoku" (Waldbaden) statt Überstunden.
Ich bin keine Japan-Expertin. Aber nach vielen Gesprächen und drei Wochen unterwegs im Land ist mein Eindruck: Auch Japan steht an einem Punkt, an dem sich vieles neu sortiert. Vielleicht kein klarer Wendepunkt – aber doch eine spürbare Spannung zwischen Tradition und Veränderung. Zwischen Disziplin und persönlicher Freiheit. Zwischen Pflicht und Pause.
Bei uns herrscht oft das andere Extrem: Individualismus bis zur Erschöpfung. Jeder kämpft für sich. Sitzplätze in der Bahn? Ein darwinistischer Wettbewerb. Öffentliche Räume? Laut, hektisch, rücksichtslos. Selbst beim Einkaufen geht es manchmal zu wie beim Blitzschach – Hauptsache schneller, vor dem anderen, vorbei am anderen. Die Liege am Hotelpool mit dem Handtuch markiert wie Staatsgebiet.
Zeit für ein neues Mindset
Was würde passieren, wenn wir uns ein kleines Stück japanischer Haltung abschauen würden? Nicht alles – gewiss nicht. Wir brauchen kein kollektives Schweigen, keine soziale Selbstaufgabe. Aber ein wenig mehr leise Disziplin. Ein bisschen mehr Mitdenken. Ein bisschen mehr Wir.
Ein bisschen weniger Kampfmodus.
Ein bisschen mehr Gelassenheit.
Ein bisschen weniger „Ich zuerst“.
Ein bisschen mehr „Wir auch“.
Diese Japanreise hat mir gezeigt: Eine Gesellschaft lebt nicht davon, dass jeder ständig seinen Platz verteidigt – sondern davon, dass Menschen bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, sich einzufügen, mitzudenken. Vielleicht ist genau das der Schlüssel, den wir in Deutschland gerade verlieren: Verlässlichkeit statt Selbstvermarktung. Kooperation statt Ego-Show. Disziplin statt Anspruchshaltung.
Wenn wir Rücksicht nicht als Schwäche, sondern als Zukunftskompetenz verstehen, stärken wir nicht nur das Miteinander, sondern auch unsere Position als Wirtschaftsstandort.
Vielleicht ist es an der Zeit, das Handtuch mal nicht auf die Liege zu werfen – sondern auf unseren ganz alltäglichen Egoismus.