Netzdienlichkeit: Deutschland auf Blackout-Kurs: Nur so retten wir unsere Stromversorgung
Deutschland rühmt sich für seine Vorreiterrolle in der Energiewende – doch die Realität sieht düster aus. Der Anteil erneuerbarer Energien am Bruttoendenergieverbrauch (Strom, Wärme und Mobilität) liegt seit vier Jahren bei mageren 20 bis 22 Prozent. Das ist nicht nur unter dem EU-Durchschnitt (aktuell rund 25 Prozent), sondern vor allem ein Zeichen für ein kolossales Politikversagen. Denn während der Stromsektor, der ein Viertel des Bruttoendenergieverbrauchs ausmacht, inzwischen rund 60 Prozent erneuerbare Energie einsetzt, blieben Wärme und Mobilität – und damit drei Viertel des Bruttoendenergieverbrauchs – bislang weitgehend außen vor. Das gilt nicht für hochgradig energieautarke Gebäude. Mit ihrer hohen Netzdienlichkeit stellen sie einen beachtlichen Teil zur Lösung einer erfolgreichen Energiewende dar, sind aber noch immer nicht im Fokus der Energie- und Wohnungsbaupolitik.
So entstand ein gefährlicher Ungleichklang: Statt systematisch alle Sektoren zu dekarbonisieren und aufeinander abzustimmen, konzentrierte sich die Politik auf publikumstaugliche Solar-Meldungen und Windkraft-Bilder. Doch das eigentliche Rückgrat der Energiewende – Speicher, Netze, Steuerung – blieb weitgehend unmodernisiert. Die Folge: Ein technisch überfordertes Netz, ein steigendes Risiko für Stromausfälle und eine Bevölkerung, die sich zunehmend verschaukelt fühlt.
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Über Timo Leukefeld
Prof. Dipl.-Ing. Timo Leukefeld ist Dozent und Buchautor arbeitet zudem als Redner und Denkwandler beim Zukunftsinstitut. Er hat das erste bezahlbare und tatsächlich energieautarke Haus Europas entwickelt und berät Bauherrn. In Freiberg, Sachsen, baute er zwei energieautarke Häuser, in denen er wohnt und arbeitet.
Das Netz ächzt – und das Ende der Fahnenstange ist erreicht
Manche Experten warnen bereits davor, dass in weiten Teilen Deutschlands ab 2026 keine neuen Solarstromanlagen oder Schnellladesäulen für Elektroautos mehr ans Netz angeschlossen werden können. Neue Windkraft- und Solaranlagen sollen dann nur noch außerhalb der Einspeise-Spitzenzeiten einspeisen dürfen. Das Stromnetz ist schlicht erschöpft. Die Ursache: Das vorhandene System, größtenteils aus den 1960er Jahren, war nie dafür ausgelegt, volatile Stromquellen wie Sonne und Wind in solchen Größenordnungen aufzunehmen – geschweige denn zu steuern.
Spätestens ab einem Anteil von mehr als 60 Prozent fluktuierender Energie am Netzvolumen droht in einem veralteten Netz der Kontrollverlust. Die Notfalleingriffe ins deutsche Stromnetz steigen seit Jahren: In den 2000er-Jahren waren es noch drei bis sechs Eingriffe pro Jahr, 2024 hingegen mussten die Übertragungsnetzbetreiber mehr als 15.000 Mal eingreifen! Ohne ausreichende Energiespeicher, ausgebaute Trassen von Nord nach Süd und smarte Steuerung von Erzeugern und Verbrauchern geraten Netzfrequenz und Lastverteilung aus dem Gleichgewicht.
Die Blackout-Gefahr ist real, und zwar völlig unabhängig von potenziellen Hackerangriffen, die in der öffentlichen Wahrnehmung bisher als einzige Ursache dafür befürchtet wurden. Gleichzeitig sind zahlreiche Grundlastkraftwerke bereits abgeschaltet worden – neue flexible Kraftwerke entstehen kaum, da sie sich wirtschaftlich nicht rechnen.
Was jetzt zählt: Netzdienlichkeit statt Einspeisefetisch
Die neue Währung der Energiewirtschaft heißt nicht mehr Einspeiseleistung, sondern Netzdienlichkeit. Im Grunde ist dies ein Paradoxon, da das Netz eigentlich seinen Bürgern und der Wirtschaft dienen soll und nicht umgekehrt. Der Paradigmenwechsel ist aber unausweichlich: In einer Welt, in der alle zur gleichen Zeit Strom produzieren, wird Einspeisung zur Belastung. Und wer in solchen Momenten weiterhin einspeist, soll künftig sogar zahlen – eine radikale Umkehr des bisherigen Förderprinzips. Das bedeutet konkret: Nur wer sich netzdienlich verhält – also Strom abnimmt, wenn Überschuss besteht, und Last reduziert, wenn Knappheit herrscht – wird künftig belohnt. Das betrifft besonders Gebäude, die als systemrelevante Puffereinheiten agieren können.
Wie Gebäude vom Problem zur Lösung werden
Ein innovatives Gebäudekonzept, nämlich hochgradig energieautarke Mehrfamilienhäuser mit drei Speicherebenen, zeigt bereits heute, wie Wohnimmobilien aktiv zur Netzstabilisierung beitragen – und dabei wirtschaftlich hochattraktiv bleiben:
- Größere Batteriespeicher mit intelligenter Steuerung laden sich im Sommer tagsüber mit Solarstrom auf. Statt diesen Strom sofort ins überlastete Netz zu pressen, wird er nachts eingespeist – wenn andere Quellen ruhen. Im Winter wiederum werden die Speicher mit günstigem Überschussstrom aus dem Netz befüllt – eine Win-Win-Situation für Netz und Vermieter.
- Autarkie-Boiler zur dezentralen Warmwasserbereitung in Mehrfamilienhäusern mit einem zusätzlichen extern steuerbaren Heizstab ermöglichen die Vorratserzeugung von Duschwasser. Bei Netzüberlastung lassen sie sich abschalten, ohne den Duschkomfort der Bewohner einzuschränken. Bei Stromüberschuss werden sie gezielt auf höhere Temperaturen erhitzt, das bedeutet: Energieaufnahme statt -abgabe.
- Hocheffiziente Infrarotheizungen besitzen in Neubauten und sanierten Gebäuden eine geringe Last und dienen als Niedertemperaturwärmespeicher. Sie erwärmen Wände, Möbel und Fußböden, speichern die Wärme über Stunden – und können bei Stromknappheit problemlos deaktiviert werden, ohne dass die Raumtemperatur spürbar sinkt.
Alle drei Technologien können auch über eine dezentrale Steuerung ineinandergreifen und nutzen intelligente Zähler- und Netzsignale, um auf Preis- und Spannungsschwankungen zu reagieren. Das Ergebnis: ein hochgradig autarkes, flexibles, netzdienliches Gebäude.
Ein echter Renditehebel für die Wohnungswirtschaft
Was bedeutet das für Investoren und Vermieter? Die Antwort ist klar: Netzdienliche Gebäude bieten nicht nur Sicherheit in unsicheren Energiezeiten, sondern eröffnen echte Renditechancen. Durch intelligente Lastverschiebung lassen sich Einkaufskosten für Strom drastisch senken – und das bei gleichzeitiger Reduktion der Nebenkostenpauschale für Mieter.
Zudem wird erwartet, dass Förderprogramme und regulatorische Erleichterungen künftig gezielt auf netzdienliche Lösungen zugeschnitten werden. Wer jetzt investiert, profitiert nicht nur von niedrigen Betriebs- und Verbrauchskosten, sondern auch von einem entscheidenden strategischen Vorsprung gegenüber herkömmlichen Bestandsimmobilien.
Ein Beispiel aus der Praxis: Ein Bauträger in Süddeutschland hat bereits 2023 rund fünf hochgradig energieautarke Wohneinheiten mit netzdienlichen Technologien ausgestattet – darunter Batteriespeicher, Autarkie-Boiler und Infrarotheizungen. Bereits im ersten Betriebsjahr wurden die Energiekosten um etwa 30 Prozent gesenkt. Die Bewohner profitieren von stabilen Pauschalmieten trotz volatiler Märkte. Der Vermieter erzielt über den Direktstromhandel und Netzentlastungsboni zusätzliche Einnahmen. Gleichzeitig ist das hochgradig energieautarke Mehrfamilienhaus unabhängig von Netzausbau-Engpässen und Planungsstopps für neue Photovoltaikanlagen.
Wohnungswirtschaft und Kommunen als Schlüsselakteure
Kommunale wie privatwirtschaftliche Wohnungsunternehmen können mit netzdienlichen Gebäuden stabile oder sogar sinkende Betriebskosten garantieren, selbst bei steigenden Energiepreisen. Das hat erhebliche positive sozialen Auswirkungen: Sie sichern bezahlbares Wohnen. Die Pauschalmiete, die sämtliche Kosten für Energie (Heizung, Strom, Warmwassererzeugung und zukünftig auch E-Mobilität) inkludiert, bedeutet nicht weniger als soziale Planungssicherheit. Mieter werden so unabhängig von Marktpreisschwankungen, was besonders einkommensschwächere Haushalte entlastet. Gleichzeitig bietet die eigene Stromerzeugung eine neue Ertragsquelle für Vermieter: Sie können überschüssigen Strom direkt vermarkten oder gegen Netzentgelte „bonifizieren“ (Netzdienstleistungen, Spitzenlastvermeidung etc.). Das kann hohe Zusatzerlöse generieren. Durch die hohe Eigenversorgungsquote (eine Autarkie von 50-70 % ist kostengünstig erreichbar) können Quartiere ohne Verzögerung realisiert werden, auch wenn die Netzinfrastruktur (PV-Anschlusskapazitäten etc.) begrenzt ist – sozusagen Sektorkopplung auf unterer Ebene. Außerdem positionieren sich kommunale wie privatwirtschaftliche Wohnungsunternehmen mit netzdienlichen Gebäuden als Vorreiter, was nicht nur dem eigenen Image dient, sondern auch für Effekte am Markt sorgt.
Die Energiewirtschaft steht an einem Scheideweg. Der Ausbau erneuerbarer Energien ist nur die halbe Miete – ohne netzdienliche Gebäude droht der Kollaps. Die Wohnungswirtschaft ist dabei nicht Opfer, sondern Schlüsselakteur. Wer heute in netzdienliche Technologien investiert, schützt nicht nur seine Immobilienwerte, sondern sichert sich eine erfolgreiche Rolle in der Energiezukunft, mit Vorteilen bei Finanzierung, Förderung und Marktposition.
Denn die nächste große Regulierung kommt bestimmt, auch mit neu gewählter Bundesregierung. Und sie wird nicht die Netzbelaster unterstützen, sondern diejenigen belohnen, die sich eben netzdienlich verhalten.
Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.